100 Jahre „Indian Citizenship Act“ – Nicht alle wollten Bürger dieses Staates werden
ZitatAlles anzeigenVor hundert Jahren unterzeichnete US-Präsident Coolidge den Indian Citizenship Act.
Am 2. Juni 1924 unterzeichnete US-Präsident Calvin Coolidge (1872 - 1933) den Indian Citizenship Act. Das Gesetz lautete: „Vom im Kongress versammelten Senat und Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten von Amerika sei beschlossen, dass alle staatenlosen Indianer, die innerhalb der territorialen Grenzen der Vereinigten Staaten geboren wurden, Bürger der Vereinigten Staaten sind und hiermit zu solchen erklärt werden. Vorausgesetzt, dass die Gewährung dieser Staatsbürgerschaft das Recht eines Indianers auf Stammes- oder sonstiges Eigentum in keiner Weise beeinträchtigt oder anderweitig beeinflusst wird.“
Das hört sich großartig an, wenn man vergisst, dass die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten vom 4. Juli 1776 stammt und folgenden Satz enthält: „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen wurden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.“ (So veröffentlicht am 5. Juni in der deutschsprachigen Zeitung „Pennsylvanischer Staatsbote“.)
Zu „alle Menschen“ gehörten damals nicht: Afroamerikaner, Sklaven, Indianer und Frauen. Zur Geschichte dieses Satzes gehört auch, dass man hier nicht der Unabhängigkeitserklärung von Virginia folgte, deren erster Artikel lautete: „Alle Menschen sind von Natur aus in gleicher Weise frei und unabhängig und besitzen bestimmte angeborene Rechte, welche sie ihrer Nachkommenschaft durch keinen Vertrag rauben oder entziehen können, wenn sie eine staatliche Verbindung eingehen, und zwar den Genuss des Lebens und der Freiheit, die Mittel zum Erwerb und Besitz von Eigentum und das Erstreben und Erlangen von Glück und Sicherheit.“ In Virginia stammen die „unveräußerlichen Rechte“ des Menschen nicht von Gott. Sie gehören zu seiner Natur. Virginia nahm am 4. Juli dennoch die Unabhängigkeitserklärung an und wurde so einer der 13 Gründungsstaaten der USA.
Für die Unabhängigkeitserklärung hatte Thomas Jefferson einen Paragraphen geschrieben, der den britischen König wegen des Transports von Sklaven verurteilte. Dieser die Sklaverei verurteilende Absatz schaffte es aber nicht ins Schlussdokument. Jefferson selbst war Sklavenhalter. Wie auch andere Unterzeichner der „gleiches Recht für alle“-Erklärung. 1785 hatte er sich auch gegen die „Rassenvermischung“ ausgesprochen, hatte dann aber Kinder mit einer seiner Sklavinnen.
Doch zurück zum Indian Citizenship Act. Einer, der sich sehr für die Einführung dieses Gesetzes eingesetzt hatte, war der Geistliche und Fotograf Joseph Kossuth Dixon (1856 – 1926). Er hatte an Expeditionen in die Indianergebiete teilgenommen und kannte ihre Lage besser als die meisten anderen Weißen. Er erklärte in einem seiner zahllosen Vorträge nach dem Ersten Weltkrieg: „Der Indianer, obwohl ein Mann ohne Vaterland, warf sich in den Kampf gegen die unvorstellbare Tyrannei der Hunnen. Der Indianer half bei der Befreiung Belgiens, half bei der Befreiung all der kleinen Staaten und half der Fahne der USA zu siegen. Der Indianer ging nach Frankreich, um Rache zu nehmen an den verheerenden Auswirkungen der Autokratie. Sollten wir nicht jetzt unsere Schuld einlösen, indem wir die Stämme erlösen?“
Das Gesetz stellte einen Bruch mit der Verfassung der USA dar. Die betrachtete die verschiedenen – um mich politisch unkorrekt auszudrücken – Stämme der Indianer als unabhängige Nationen, mit jeweils eigenen Bürgerrechten, sie waren also keine US-Bürger und auch nicht steuerpflichtig. Als das Gesetz 1924 in Kraft trat, war die Mehrheit der Indianer bereits Bürger der Vereinigten Staaten, sei es durch Heirat, Militärdienst oder andere Regelungen der Einzelstaaten. Das neue bundesstaatliche Gesetz betraf etwa 125 000 von 300 000 Indianern. Insgesamt hatten die USA damals an die 106 Millionen Einwohner.
Das Gesetz von 1924 zwang die Indianer nicht mehr, das Bürgerrecht zu beantragen. Sie hatten es automatisch. Sie mussten auch nicht ihre Stammeszugehörigkeit aufgeben, um US-Bürger zu werden. Doppelstaatsbürgerschaft war erlaubt. So konnten sie weiter an dem Gemeineigentum des Stammes partizipieren. Früher hatte es Versuche gegeben, nur den Indianern das Bürgerrecht der USA zu geben, die bereit waren, auf ihre Stammeszugehörigkeit zu verzichten.Man hatte auch versucht, den Gemeinbesitz der Stämme zu individualisieren. Beides war gescheitert.
Die Indianer hatten sich lange in religiösen Gemeinschaften organisiert. Die waren sehr unterschiedliche Mixturen von indigenen und christlichen Elementen. Es gab Gruppen, die den Sonnentanz und solche, die den Geistertanz praktizierten. Anfang des 20. Jahrhunderts verbreitete sich die Native American Church. In ihr ist die Einnahme des psychedelischen Kaktus Peyote das Sakrament, um sich mit dem Göttlichen zu verbinden. Heute hat sie zwischen 100 000 und 250 000 Mitglieder. Die Verwendung der Droge Peyote war von Anfang an umstritten, 1994 erließ der Kongress Bestimmungen, die Bundesbehörden untersagte, gegen den Gebrauch von Peyote in religiösen Zusammenhängen vorzugehen.
Die Religion spielte bei der Herausarbeitung der indigenen Identität wohl auch darum eine so große Rolle, weil sie für die Weißen so wichtig war. Die säkulare Moderne der Bewegung hat ein Gündungsdatum: 1911 wurde die Society of American Indians gegründet. „Sie war die erste panindianische Organisation ohne religiöse Basis“, schreibt die in Münster lehrende Historikerin Heike Bungert in ihrem Buch „Die Indianer – Geschichte der indigenen Nationen in den USA“. Der Society propagierte das Ideal eines fortschrittlichen, seine Tageszeitung lesenden, gebildeten Indianers. Er trug natürlich einen europäischen Anzug und kannte die Verfassung und seine Rechte und kämpfte dafür, sie endlich zu erhalten. Die kulturelle Integration und Anerkennung als Bürger der USA waren zentrale Ziele der Organisation.
Sie löste sich 1923 auf. Das Gesetz war zwar noch nicht unterzeichnet, war aber so gut wie durch. Die Society of American Indians zerbrach aber nicht daran, dass sie ihr Hauptziel erreicht hatte, sondern an den Differenzen ihrer führenden Mitglieder. Ein wichtiger Punkt war die Haltung zu Peyote. Für die einen war die Droge ein Stück unaufgebbarer indianischer Identität, für die anderen Verrat an den Idealen der Aufklärung.
Viele der vom Gesetz vom 2. Juni 1924 Zwangseingebürgerten wehrten sich. Die Nation der Onondaga betrachtete es als „Verrat“, das Gesetz zu akzeptieren. Denn die USA zwangen es den Stämmen auf. Die Irokesen wiesen darauf hin, dass das Gesetz von 1924 gegen eine Reihe früherer Verträge verstieße, die die Irokesen als „selbstständig und souverän“ ansahen. Viele der „Neubürger“ wollten aber auch nicht Bürger eines Staates werden, der von Anfang an Vernichtungsfeldzüge gegen sie geführt hatte. Sie sahen in der Einbürgerung einen neuen Weg, sie weiter ihrer bereits schwer beschädigten Identität zu berauben. Ihr Misstrauen wurde auch genährt dadurch, dass im verabschiedeten Gesetz nicht mehr von „full citizenship“, sondern nur noch von „citizenship“ die Rede war.
Hinzu kam: Die Gewährung des Wahlrechts war in den USA Sache der Bundesstaaten. Die verhielten sich sehr unterschiedlich, was ihre indianische Bevölkerung anging. Arizona und New Mexiko waren die letzten Staaten, in denen Indianer wählen durften. 1948 waren sie dann endlich auch dort wahlberechtigt.
Vom Gesetzestext bis zu seiner Umsetzung in die Wirklichkeit ist immer wieder nicht nur ein weiter, sondern meist auch ein hindernisreicher, von Rückschlägen begleiteter Weg.