75-jähriges Bestehen
Wie viel Kraft steckt noch im "Spiegel"?
ZitatAlles anzeigenFrüher gingen Menschen für den "Spiegel" auf die Straße. Heute machen dem Magazin die Relotius-Affäre und neue journalistische Fronten zu schaffen. Hat der "Spiegel" 75 Jahre nach seiner Gründung noch publizistische Macht?
Der "Spiegel" strahlt seit Jahrzehnten eine zentrale Botschaft aus: Wir sind die Investigativen. Tatsächlich hat das Magazin den Journalismus mit Enthüllungscharakter so geprägt wie kein anderes Medium in Deutschland. 1962 gingen sogar Menschen für den "Spiegel" auf die Straße. "Spiegel tot, Freiheit tot", skandierten sie.
Publizistischer Höhenflug nach "Spiegel-Affäre"
Unter der Schlagzeile "Bedingt abwehrbereit" hatte die Redaktion die damalige Rüstungspolitik der Bundesregierung kritisiert, mit Interna der Bundeswehr. Der Staat ermittelte wegen angeblichen Landesverrats und nahm einen Redakteur sowie Herausgeber Rudolf Augstein in Untersuchungshaft, mehr als 100 Tage. Die Polizei blockierte die Verlagsräume.
Die "Spiegel-Affäre", die den damaligen Verteidigungsminister Franz Josef Strauß (CSU) letztlich zum Rücktritt zwang, war beste Werbung für das Magazin. Es folgte ein publizistischer Höhenflug: In den 1980er-Jahren deckten "Spiegel"-Journalisten die Parteienfinanzierung des Industriellen Flick auf, ebenso Selbstbereicherung des Vorstands in Europas größtem Wohnbauunternehmen, der "Neuen Heimat". Auch heute produziert der "Spiegel" noch Schlagzeilen, etwa zu den Masken-Deals der Union.
Zunehmende Beliebigkeit
Wenn der Chefredakteur die Lage beschreiben soll, dann spricht Steffen Klusmann über die "Spiegel-Classics". Es gehe darum, Opposition gegenüber den Mächtigen zu sein, "in der Wirtschaft und in der Politik", sagt er dem NDR-Medienmagazin Zapp. Hinterfragen gehöre genauso dazu wie Missstände aufzudecken. "Das gelingt vielleicht weniger häufig, als wir das manchmal gerne hätten, aber manchmal gelingt es immer noch ganz schön gut."
Albrecht von Lucke, Politikwissenschaftler und Herausgeber der "Blätter für
deutsche und internationale Politik", mahnt hingegen, der "Spiegel" verliere sich zunehmend in Beliebigkeit - sowohl politisch als auch beim Themenmix. Investigatives werde zwar noch gepflegt, doch das Heft werde immer bunter.
Vertrauenskrise nach Relotius-Affäre
Vor drei Jahren stürzte "Spiegel"-Redakteur Claas Relotius das Magazin in eine Vertrauenskrise - und mit ihm die deutsche Medienlandschaft. An Texte war er mit teils großer Fantasie herangegangen. Klusmann fällt diese Affäre im eigenen Haus als neuem Chefredakteur auf die Füße. Er kam damals von außen und setzte auf maximale Transparenz.
Doch die Affäre klebt am "Spiegel". "Wenn der 'Spiegel' Recherchen veröffentlicht, die angezweifelt werden, wird Relotius immer wieder ein Thema werden", erklärt Marvin Schade, Chefredakteur des Branchendienstes "Medieninsider". Er lobt die Aufarbeitung im "Spiegel" als durchaus vorbildlich. Der Fall lasse sich allerdings "nicht komplett abschütteln".
Und auch Klusmann sagt dazu nach drei Jahren Abstand: "Wenn man so einen Bock geschossen hat, dann muss man damit leben, dass man damit für sehr lange Zeit in Verbindung gebracht wird und dass das für andere ein gefundenes Fressen ist."
Geschäft wächst wieder
Wirtschaftlich scheint diese Krise jedoch längst überwunden. Während der
"Spiegel" in den vergangenen 20 Jahren immer weniger Magazine verkauft
und die Millionen-Marke schon lange nicht mehr erreicht hat, wächst das Geschäft neuerdings wieder.
Klusmann sagt, mit Verkäufen an Kiosken und Abos zusammengenommen, habe der "Spiegel" heute eine "steigende harte Auflage". Verkaufszahlen der Verlags- und Werbeindustrie zeigen, dass digitale Abos, die das Haus unter der Marke "Spiegel+" anbietet, den Niedergang nicht nur bremst, sondern sogar für Wachstum sorgen.
Auch der "Spiegel" muss inzwischen sparen
Medienjournalist Schade bremst allerdings die Euphorie. Auch der "Spiegel", der lange in einer vergleichsweise luxuriösen Situation gewesen sei und seine Mitarbeiter seit Jahrzehnten an seinen Gewinnen beteilige, müsse inzwischen aufs Geld achten.
Schon vor Corona sei ein Sparprogramm angelaufen. In der Krise sei der Druck noch mal gestiegen. Der Verlag habe deshalb "Bento" den Stecker gezogen, dem ambitionierten Portal des "Spiegel" für junge Leserinnen und Leser. Und auch sonst sei die Digitalisierung beim "Spiegel" zwar ein Erfolg, aber eben auch nur bedingt.
Multimediales Potenzial noch nicht genutzt
Die "Spiegel"-Gruppe hat die besten Voraussetzungen für Multimedialität - durch das starke Nachrichtenmagazin, durch den Online-Auftritt und durch "Spiegel-TV", sagt Schade. Der "Spiegel" habe es aber in den vergangenen Jahren "leider noch nicht geschafft, alle diese Elemente zusammenzuführen und ein starkes multimediales Haus zu werden".
Da seien andere deutlich weiter, vor allem der Axel-Springer-Konzern. Dort haben sowohl "Bild" als auch "Welt" inzwischen je einen eigenen TV-Kanal. Klusmann sagt, auf diesem Markt sei für den "Spiegel" aber nichts zu gewinnen, der mit XXP schon früh selbst an einem Kanal beteiligt war. XXP ging 2006 vom Netz.
"Stern" und "Focus" sind nicht mehr die Konkurrenten
Inzwischen verschiebt sich für den "Spiegel" auch die Konkurrenz. Früher waren das vor allem der "Stern" und der "Focus". Heute sind es für den "Spiegel"-Chefredakteur im klassischen Geschäft vor allem die "Süddeutsche Zeitung", die in der Investigation wiederum mit dem NDR und dem WDR kooperiert, und die "Zeit". In beiden Häusern haben einstige "Spiegel"-Journalisten Investigativ-Ressorts aufgebaut.
Im Nachrichtengeschäft der Zukunft, im Netz, stünde der "Spiegel" vor allem "Auge in Auge mit der 'Bild'". Im Jubiläumsjahr will Klusmann deshalb nun ein neues Nachrichten-Team aufbauen. Seine Redaktion soll damit "wieder mehr Agendasetting betreiben".