100 Jahre deutsche Republik: Nichts steht geschrieben
ZitatAlles anzeigenIn der Rückschau läuft alles oft auf Hitler zu: von Luther zu Hitler, von Bismarck zu Hitler, von Wilhelm II. zu Hitler. Und war nicht die Weimarer Republik von vornherein zum Scheitern verurteilt? Das war sie nicht. Solche zwanghaften Zwangsläufigkeiten gibt es nur aus heutiger Sicht. Bei allen interessanten Kontinuitäten: Die deutsche Geschichte war damals so offen, wie sie es heute ist.
So auch bei der Ausrufung der Republik vor hundert Jahren und beim Waffenstillstand zwei Tage später, am 11. November 1918. Auch wenn die Nachgeborenen von zwei verlorenen Weltkriegen sprechen, so waren diese beiden fürchterlichen Großbrände grundverschieden, und so unterschiedlich war auch ihr Ende. 1918 war Deutschland zunächst nicht und später nur zu geringen Teilen besetzt. Das Heer stand tief in Frankreich. Noch im Frühjahr ließ eine Offensive Hoffnung auf einen Sieg aufkommen. Umgekehrt ist heute weitgehend unbekannt, dass im Reich wegen der Blockade gehungert wurde. Doch die Revolution ging von Soldaten aus, die sich nicht länger verheizen lassen wollten. Die Matrosen meuterten, und das Volk schickte seine Monarchen weg.
Das war eine große Umwälzung. Früher als in manchen „älteren“ Demokratien erhielten Frauen das Wahlrecht. Es war zugleich ein Neubeginn, der sich durchaus auf eine demokratische, eine rechtsstaatliche Tradition stützen konnte – auf die der Paulskirchenverfassung. Daran konnte Weimar anknüpfen mit einer Verfassung, die echte Grundrechte gewährte und die so schlecht nicht war, jedenfalls nur so gut sein konnte, wie sie mit Leben gefüllt wurde.
Immerhin war schon das Kaiserreich, wenn nicht nach gegenwärtigen Maßstäben, so doch auf gewisse Weise ein demokratischer Rechtsstaat gewesen. Vor allem war es eine Wirtschafts- und Wissenschaftsmacht von Weltrang. So startete die junge Republik mit großen Erwartungen und mit Belastungen, die aus dem Krieg herrührten.
Gab es den „Dolchstoß“? Oder war er nur Legende? Auch Friedrich Ebert versicherte den heimkehrenden Soldaten freilich, dass kein Feind sie besiegt habe. Das Gefühl, die kämpfende Truppe sei „verraten“ worden, war nicht nur in Deutschland verbreitet. „The Donkeys“ nannte der britische Historiker und Politiker Alan Clark sein Buch über die britischen Generäle im Ersten Weltkrieg – die Esel. In Frankreich wurde Stanley Kubricks eindringlicher Spielfilm „Paths of Glory“ von 1957, der das Verheizen und Hinrichten französischer Soldaten durch die eigenen Offiziere im Ersten Weltkrieg thematisiert, erst 1975 gezeigt.
Ist der Schoß noch fruchtbar?
In Deutschland beschloss der verwundete Soldat Adolf Hitler, Politiker zu werden, wie er das später darstellte. Authentisch war jedenfalls die Erfahrung des Krieges, die er mit Millionen teilte. Wie konnte es geschehen, dass viele der Veteranen, die das Schlachten überlebt hatten, bald wieder die Waffen in die Hand nahmen, zunächst in paramilitärischen Verbänden auf den Straßen der jungen Republik? Wie war es möglich, dass sie in einen noch größeren Krieg zogen und halfen, einen Völkermord möglich zu machen? Ob aus Zwang, überkommenem Pflichtgefühl oder aus Überzeugung: Sie marschierten in einen noch schrecklicheren Krieg mit noch mehr Opfern. Die Völker der Welt reagierten darauf mit der Gründung der Vereinten Nationen und der Ächtung des Krieges; aber einen dauerhaften, die Welt umspannenden Frieden gibt es nicht.
Ist der Schoß noch fruchtbar? Diese Frage stellt sich heute wieder. Offenbar darf die allgemeine Fähigkeit, aus der Geschichte zu lernen, nicht überschätzt werden. Dazu muss man sie freilich erst einmal kennen. Parallelen zu damals scheinen immer wieder auf, wenn auch in einem deutlich anderen Umfeld. Es hat sich gezeigt, dass ohne eine gefestigte rechtsstaatliche Ordnung auch eine Demokratie kippen kann. Die Vorstellung in manchen mittelosteuropäischen Ländern, dass eine Mehrheit im alleinigen Besitz der Wahrheit sei und sich Justiz und Medien gefügig machen könne, wie es ihr gefällt, zeigt diese Verletzlichkeit auch unter Mitgliedern der Europäischen Union. Der beschlossene Austritt Großbritanniens aus diesem Projekt des Friedens und des Rechts sowie die verbreitete Spaltung westlicher Gesellschaften machen deutlich: Es gibt keine Bestandsgarantie für Institutionen – sei deren Gründung von einer noch so großen Mehrheit getragen oder seien sie aus Katastrophen hervorgegangen.
Niemand ist grundsätzlich gegen Willkür- und Gewaltherrschaft gefeit. Auch schreckliche Erfahrungen und eine noch so gute Verfassung sind keine Garantie. Jedes Recht, und erscheine es noch so naturgegeben, muss auch in der Republik immer wieder erkämpft und verteidigt werden. Das ist eine Lehre aus jenem gar nicht so fernen Krieg, in dem vor hundert Jahren die Waffen einstweilen schwiegen.
Und weiter:
Der 11. November 2018 ist der 100. Jahrestag des Endes des Ersten Weltkriegs. Wer damals in den Krieg eintrat und wie er dann endete.